Nalli Sonnenschein

Systemrelevant? Corona Tagebuch, Woche 7

systemrelevant

Liebes Tagebuch,

ich habe viel über Systemrelevanz nachgedacht in letzter Zeit. Immerhin ist dieses Wort seit der ersten Woche Ausganssperre und Kontaktverbot in aller Munde. Als wir außer den lebensnotwendigen Angeboten alle Geschäfte zu gemacht haben, war sehr schnell klar, wer systemrelevant ist: Krankenschwestern, Verkäuferinnen und Virologen.

Mich hat das Wort von Anfang an mega genervt. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich für mich sortiert hatte, warum.

Systemrelevant – relevant für das System

Zuerst dachte ich, es liegt an dem System, für das bestimmte Berufe neuerdings als relevant gelten. Nach dem Motto: Warum ist Systemrelevanz überhaupt erstrebenswert? Das System ist doch Bockmist! Wir sind als Spezies auf dem besten Weg, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören und feiern ausgerechnet die, die dabei am meisten Schaden anrichten. Oder uns am besten davon ablenken, welchen Schaden sie anrichten.

Regierungen mitten in Europa drehen die Frauenrechte zurück. Junge Menschen trauen sich nicht, in der Kneipe jemanden um seine Telefonnummer zu bitten, aber treffen sich nach einem Tinder-Match zum Beischlaf. An der Außengrenze der EU ertrinken flüchtende Menschen, weil wir denken, dass man so weitere von Flucht oder Migration abhalten kann, und weil es die EU nicht schafft, sich auf einen vernünftigen Umgang mit diesen Menschen zu einigen. Und sei der nur, zügig ihre Anträge zu bearbeiten und sie zurück zu schicken, ohne dass sie jämmerlich ersaufen.

Da möchte ich doch gar nicht systemrelevant sein!

Hätte, würde, könnte ich systemrelevant sein

Vielleicht bin ich aber auch nur getriggert, weil ich es eben auch nicht bin. Ich habe keinen der derzeit als systemrelevant bezeichneten Berufe. Dabei hätte ich gern Medizin studiert. Ärzte werden zwar derzeit selten mitgenannt, denn sie ruinieren das Bild der sich aufopfernden Pflegerin. Pfleger werden nämlich auch nicht mitgenannt. Aber natürlich sind auch Ärzte und Ärztinnen derzeit an vorderster Front im Einsatz. Mein Abi war aber leider so schlecht, dass ich für das Medizinstudium zum Bund gehen und mich für ewig und drei Tage hätte verpflichten müssen

Wenn ich also nicht gekniffen hätte, damals, könnte ich jetzt systemrelevant Ärztin sein. Orthopädie hätte ich gewählt, und dann wäre ich Notfallchirurgin geworden. Ich hätte vielleicht meinen Mc Sexy oder Mc Dreamy gefunden, würde zusammen mit tollen Freunden arbeiten, die alle denselben Beruf haben wie ich. Keiner arbeitet in der Verwaltung. Würde täglich Menschenleben retten und in einem Häuschen am Stadtrand wohnen mit Jägerzaun drum herum und SLK Cabrio vor der Tür. Vielleicht wäre ich auch im Auslandseinsatz in Kabul über eine Landmine gefahren und hätte nie die Chance gehabt, meine Berufswahl zu überdenken und auf die Bühne zu gehen.

Systemrelevant gekniffen

Aber die Debatte um systemrelevante Berufe konfrontiert mich damit, dass ich mich anders entschieden habe. Weil meine Lebenssituation damals war, wie sie war. Und das ganze Gelaber über Relevanz in diesem System, in dem man keine Chance auf Hilfe hat, solange man nicht mit einem Stein um den Hals auf dem Meeresgrund aufsetzt, geht mir in solchen Momenten einfach nur auf die Eierstöcke!

Natürlich wurden elektive Eingriffe abgesagt und Unfälle gibt es kaum, wenn die Menschen nicht raus dürfen. Ich wäre daher selbst als Medizinerin nutzlos während einer Pandemie! Und Mc Dreamy und Mc Sexy sind mittlerweile beide tot.

Also muss es etwas Anderes sein, das mich triggert, wenn mal wieder einer darüber lamentiert, wie systemrelevant die schlecht bezahlten, unterprivilegierten Dienstleisterinnen sind. Und wie nutzlos alle anderen. Vor allem die, die ihren Job jetzt im Home-Office erledigen können!

Differenzierte Systeme

Ich finde es eher fragwürdig, wenn Berufe in systemrelevant und nicht systemrelevant aufgeteilt werden. Und damit implizit Menschen aufgeteilt werden in Menschen mit einem systemrelevanten Job und Menschen ohne einen solchen. Für mich klingt das immer ein bisschen wie eine Einteilung in wertes und unwertes Leben. Dabei offenbart es vermutlich nur ein sehr seltsames Verständnis davon, was ein System ist.

In einem System hat jede Einheit eine Aufgabe. Veränderungen an einer Einheit verändern das komplette System. Es gibt Einheiten, die mehr oder weniger vernetzt sind und daher mehr oder weniger Aufmerksamkeit bekommen. Aber das heißt nicht, dass die kleinen, unsichtbaren Einheiten keine wichtige Funktion erfüllen.

Oder was glauben die Leute, wer gerade hinter den Kulissen daran arbeitet, dass Unternehmen nicht pleitegehen, Menschen ihre Jobs nicht verlieren, ihre Kindergeldanträge bewilligt werden oder jeden Tag wieder Lebensmittel in den Geschäften stehen? Diese Menschen sind auch alle systemrelevant! Und gar nicht mal so wenige von denen sind an ihren Arbeitsplätzen einem Infektionsrisiko ausgesetzt, das einen Fußballprofi in nackte Panik versetzen würde. Nur ohne Tests.

Systemirrelevanz

Wenn eine Einheit im System keine Aufgabe (mehr) hat, wird sie verstoffwechselt und dient den anderen Einheiten als Nahrung. Oder sie wird – wie der Blinddarm – über Generationen mitgeschleppt. Hin und wieder entzündet sie sich. Sie muss dann entfernt werden, bevor sie ihre Scheiße in das System ergießt und das System unter qualvollen Schmerzen tötet. So wie der Faschismus.

So gesehen kann es natürlich gut sein, dass wir gerade erkennen, welche Berufe oder Branchen wir in unserem System nicht (mehr) brauchen. Vielleicht schleppen wir die Automobilindustrie und Krankenhaus-Investmentfonds aus reiner Gewohnheit mit uns rum, weil die Bauchschmerzen noch auszuhalten sind und die nicht unbedingt notwendigen Eingriffe verschoben wurden. Oder weil niemand hier darin ausgebildet wurde, unnötige Anhängsel so zu entfernen, dass die zurückbleibende Narbe nicht allzu scheiße aussieht!

Evolution oder Explosion?

Ich würde mir daher wünschen, dass wir weniger darüber reden, wer systemrelevant ist oder nicht. Und mehr darüber, welche Veränderungen wir in unserem System wollen. Unter der zugegebenermaßen total idealistischen, hoffnungsfrohen, alles Leben wertschätzenden Annahme, dass jede Einheit ihre Aufgabe hat. Und dass wir das System verändern können statt es zu zerstören: eine Einheit nach der anderen.

Alternativ können wir natürlich auch die Zyklen der Geschichte stumpf wiederholen, in denen nach katastrophalen Ereignissen Rezession und Faschismus die Staaten in Kriege führen und erst, wenn alles zerstört ist, das System neu aufgebaut wird. Wenn wir nicht schlau genug sind, das zu vermeiden, ist Systemrelevanz sowieso egal.

Und wir Künstler?

Ich habe mich mal hart mit einer Freundin gestritten, weil ich anlässlich einer finanzpolitischen Frage meinte, Kunst sollte nicht vom Staat gefördert werden. Die Aufgabe von Kunst sei es, das System kritisch zu hinterfragen, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Und das sei quasi unmöglich, wenn man von eben jenen bezahlt wird, die man kritisieren soll.

Im Grunde sehe ich das auch immer noch so, aber ich musste drei Dinge lernen. Erstens: Auch ein Künstler muss von irgendwas seine Miete bezahlen. Und man ist entweder der breiten Öffentlichkeit gefällig, so dass die ihr Geld freiwillig rausrückt. Oder man braucht Förderung von Dritten.

Zweitens: Wenn ich zweimal in 12 Jahren der Automobilindustrie durch eine Wirtschaftskrise helfe, dann kann meinetwegen jeder vom Staat Geld kriegen. Wirklich jeder. Warum verdient eine obdachlose Prostituierte weniger Aufmerksamkeit als ein Blinddarm? BGE jetzt! Integrität muss man sich schließlich leisten können.

Brot und Spiele

Und drittens macht es ja vielleicht auch gar nichts, dass Kunst heute vor allem der „Spiele“-Teil von Brot und Spiele ist. Und nicht die reflektierte Kulturkritik, als die ich sie gern sehe. Was machen die Menschen während der Ausgangssperre? Ziehen sie sich in ihr Innerstes zurück und überdenken ihre Lebensentscheidungen? Natürlich nicht. Netflix und Youtube mussten ihre Geschwindigkeiten drosseln. Es gibt dieses Meme über die Systemrelevanz von Künstlern, dank deren Arbeit es überhaupt nur möglich ist, die Quarantäne zu überstehen. Wenn jemals etwas bewiesen hat, dass Kunst vor allem Unterhaltung ist, dann Corona.

Ich versöhne mich jetzt damit. Ich kann technische Perfektion wertschätzen, auch wenn ein Tanztheaterstück ‚nur‘ eine schöne Geschichte erzählt. Die Geschmäcker sind halt verschieden, und die einen mögen George Clooney und die anderen George Sand. Es muss auch nicht jeder Comedian später im Leben Kabarett machen. Es wäre sogar besser, wenn mehr von ihnen es lassen würden. Mein Humor hat eh Sonderschulabschluss, ich lache über jeden Scheiß.

Was ich sagen will: In einem System hat jede Einheit ihre Aufgabe. Jeder und jede einzelne von uns ist systemrelevant. Wenn wir das nicht (mehr) wären, würde das System uns gnadenlos verstoffwechseln. Und wenn du immer noch denkst: Nee, ich bin wirklich egal. Ja nun. Dann bist du vielleicht der Blinddarm.

Tschüss,

Deine Nalli

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