Nalli Sonnenschein

Das irre Corona Tagebuch Woche 6

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Liebes Tagebuch,

was für eine irre Woche! Also, nicht für mich. Ich bin immer noch brav zuhause, meistens jedenfalls. Aber draußen sind alle irre. Was mir das zuhause bleiben sehr erleichtert, das gebe ich zu. Leider kommen viele der Irren aber auch nach Hause, zum Beispiel über das Internet und die sozialen Netzwerke. Oder auch ganz oldschool in den Nachrichten und der Tageszeitung.

Ich habe mich ja bisher maximal zurückgehalten, wenn es darum geht, Donald Trump zu kommentieren. Einfach weil es meine Synapsen sprengt, dass dieser Mensch von genug Menschen gewählt wurde, um Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Nur damit die Amis keine Frau als Präsidentin haben müssen. Gleich nach dem Afro-Amerikaner.

Aber ob die USA noch sexistischer als rassistisch sind, geht mich ja erstmal nichts an. Ich lebe da nicht. Ich bin da nicht wahlberechtigt. Die meisten Produkte US-Amerikanischer Firmen benutze ich vor allem, weil es keine guten europäischen Alternativen gibt. Mit den USA muss man halt irgendwie leben. Wie die dort leben wollen, kann mir ja eigentlich egal sein.

Der Irre im Weißen Haus

Das Problem ist halt, dass die Amis echt viel Einfluss haben. Und dass das, was da passiert, mit einer gewissen Verzögerung oft auch hierher schwappt. Und da beobachte ich mit einer gewissen Sorge, wenn der orange Tölpel vor laufenden Kameras einer Medizinerin ihren Job mansplained. Als hätten wir nicht genug mit unseren eigenen Mansplainern zu tun!

Dabei ist überhaupt niemandem aufgefallen, dass sein Auftritt übelstes Mansplaining war. Alle haben sich sofort auf seine Inhalte gestürzt. Das ist ja seine Taktik: So dummes Zeug zu reden, dass niemandem auffällt, was er wirklich tut. Anfang der Woche hat der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Vorschläge gemacht zu weiterer Forschung über die Behandlung von Corona-Patienten. Und er hatte die grandiose Idee, Dinge, die bei der Oberflächendesinfektion funktionieren, auch dahingehend zu prüfen, ob man sie den Patienten direkt verabreichen könnte, um das Virus zu töten: UV-Licht, Hitze und Desinfektionsmittel.

Heilen wie Donald

Tagelang regen sich Journalisten und Twitter-User darüber auf, wie man so dumm sein kann, die Injektion von Desinfektionsmitteln vorzuschlagen. Das finde ich nicht gut. Als Kinder haben wir doch alle vor der Sesamstraße gesessen: „Wer wie was. Der die das. Wieso weshalb warum. Wer nicht fragt, bleibt dumm.“ Wenn man etwas nicht weiß, muss man fragen. Und wenn man gerade gelernt hat, dass es Sachen gibt, die Viren töten, dann kann man doch mal fragen, ob dieselben Methoden auch beim Menschen funktionieren würden. Fragen ob. Nicht: vorschlagen, das mal zu erforschen! Wenn Hitze gegen das Virus hilft, und das Virus sich zuerst im Rachen vermehrt, vielleicht hilft es ja, mit kochendem Wasser zu gurgeln?

Was ich allerdings viel faszinierender finde, als dass er offenbar gerade erst gelernt hat, was Oberflächendesinfektion ist: Dass er die Erforschung der Möglichkeiten Dr. Deborah Birx vorschlägt. Einer Medizinerin, die seit ca. 30 Jahren im Kontext Infektionskrankheiten / HIV tätig ist und unter Barack Obama die US Strategie gegen AIDS angeführt hat. Man könnte also sagen, sie ist eine Frau, die sich mit Infektionskrankheiten im Allgemeinen und Viren im Besonderen auskennt und damit, was man zur Eindämmung tun kann. Und die soll noch nie darüber nachgedacht haben, welche Methoden gegen Viren helfen?

Mansplaining

Als ich das Video gesehen habe, wie Trump ihr seine „Ideen“ mitteilt, musste ich an das Buch von Rebecca Solnit denken: Men explain things to me. In der ersten Geschichte erzählt sie, wie ein Typ sie mal über ein Buch vollgelabert hat. Ihre Einwände dazu hat er alle vom Tisch gefegt und er hat auch dann nicht aufgehört damit, als sie ihm gesagt hat, dass sie das Buch geschrieben hat, über das er gerade spricht. So als hätte er diese Information überhaupt nicht verarbeitet. Und genau so guckt Deborah Birx in dem Video, als 45 ihr vorschlägt zu prüfen, ob man infizierten Patienten Desinfektionsmittel injizieren kann. Wie die Autorin, der gerade ein Typ ihr eigenes Buch erklärt.

Jede Frau hat wohl schon mal ihr Fachgebiet erklärt bekommen von irgendeinem Hanswurst. Ich gebe zu: Ich beneide Männer um diese Fähigkeit, sich für Experten in ALLES zu halten. Und auch vollständig das Unwohlsein bei ihrem Gegenüber zu ignorieren, wenn du dich zu Tode langweilst, weil du das alles schon weißt, aber zu Höflichkeit erzogen wurdest. Bis du irgendwann einwirfst: Ja, das weiß ich. Mhm. Ich hab das studiert. Habe ich auch so (oder ganz anders) erlebt. Das ist mein Beruf. ICH HAB DAS FUCKING BUCH GESCHRIEBEN!!!

Männerüberschuss

Man kann es den Männern auch nicht verdenken. Sie lernen einfach nicht, Frauen als kompetente Menschen wahrzunehmen. Sogar in der aktuellen Coronakrise dominieren die Männer die Debatte. Manchmal habe ich das Gefühl, die einzigen Berufe, die Frauen noch haben, sind Krankenschwester, Moderatorin und Bundeskanzlerin aka Mutti. Außer Angela Merkel findet „die Frau“ derzeit medial überhaupt nicht statt. Selbst die Künstler-WGs bestehen vor allem aus Männern – wenn man von der wohltuenden Hazel Brugger einmal absieht.

Und ganz ehrlich? Mir geht das auf die Eierstöcke. Drosten und Streeck sind ja kluge Männer, führende Köpfe ihres Fachs, keine Frage. Und sexy, auf ihre jeweils eigene, seltsame Art. Immerhin. Das Auge isst mit. Aber auch in anderen Fachbereichen sehen und hören wir derzeit vorwiegend Männer. An Hochschulen kann man schon jetzt (nach 6 Wochen!) feststellen, dass Männer mehr publizieren, während Frauen deutlich weniger Texte abliefern.

Und auch in der Debatte über Öffnungen und die gesellschaftlichen Folgen werden immer schön die gleichen, alten Rollenmodelle und Vorurteile wiederholt: Die Männer werden arbeitslos, und die Frauen werden vermöbelt.

Irre Stereotype

Äh… nee. Keine Frage, häusliche Gewalt ist ein ernst zu nehmendes Thema. Darüber habe ich letzte Woche geschrieben und werde das sicher noch öfter tun. Aber nicht alle von uns sind Opfer. Die meisten sogar nicht. Die meisten von uns sind auch keine Krankenschwestern oder Verkäuferinnen. Einige von uns haben auch ihre Auftritte abgesagt bekommen, wurden in Kurzarbeit geschickt oder fürchten um den Fortbestand ihrer Unternehmen. Manche sind keine Mütter (WHAAAAT???), die jetzt zusehen müssen, wie sie ohne Kinderbetreuung alles unter einen Hut kriegen. Die einen arbeiten ganz normal weiter, andere sitzen alleine zuhause, ohne Partner oder Kinder. Einige nähen Munasken und verschicken die an alle Freunde ohne Nähmaschinen.

Manche sind auf Jobsuche, andere gründen gerade jetzt ein Unternehmen. Einige vermöbeln ihre Männer oder schreien ihre Kinder an. Würden gern ausziehen oder auswandern, aber das geht gerade nicht.

Und in der öffentlichen Debatte? Häusliche Gewalt und der Wunsch nach Scheidungen nehmen zu. Warum denkt keiner an die armen Mütter und macht endlich die Kindergärten wieder auf? Die Corona-Heldinnen in Pflege und Verkauf, die ohne ausreichende persönliche Schutzausrüstung FÜR UNS weiterarbeiten. Und: Corona wirft uns bei der Gleichberechtigung um Jahrzehnte zurück.

Wo sind die Frauen?

Was findet nicht statt? Wirtschaftswissenschaftlerinnen. Virologinnen. Epidemiologinnen. Katastrophenschützerinnen. Kabarettistinnen. Politikerinnen (außer Mutti). Soziologinnen. Medizinerinnen. Unternehmerinnen. Schulleiterinnen. Behördenchefinnen. Akademikerinnen. Professorinnen. Ingenieurinnen. Frauen, die etwas zu sagen haben. Frauen, die klarkommen. Frauen. Obwohl uns immer erzählt wird, wir hätten dieses seltene Talent (das gar nicht so selten ist, denn 50% der Menschheit sind ja Frauen), unterschiedliche Sichtweisen zu berücksichtigen bei einer Entscheidung. Etwas, das uns im Alltag gern als Führungsschwäche ausgelegt wird: Dass wir andere Menschen fragen, was sie über eine Angelegenheit denken, und ihre Sicht in unsere Entscheidung integrieren.

Also ziemlich genau das, was wir jetzt in der Krise unbedingt brauchen. Denn wir müssen intelligente Wege aus der Krise finden. Wege, die die unterschiedlichen Interessen ausgleichen und in ihrer Vielfalt berücksichtigen. Stattdessen werden Konflikte zwischen den Jungs herbeigeschrieben, die es überhaupt nicht gibt. Werden Forschungsergebnisse politisch eingeordnet bevor sie rational bewertet und in Empfehlungen übersetzt werden können. Wird Kritik an der Politik gleichgesetzt mit der Bereitschaft, Menschenleben über wirtschaftliche Interessen zu stellen. Als wäre die Dichotomie der Corona-Krise die zwischen Leben und Geld.

Irre Verschwörungstheorien

Das letzte nervt mich ja schon seit Beginn des Lockdowns. Durch die Einführung der ersten Lockerungen gewinnt die Debatte nochmal an Fahrt. Das ist auch erwartbar. Je länger die Einschränkungen dauern, desto schwerer sind sie auszuhalten. Man sucht nach alternativen Lösungen und kommt dabei ganz zwangsläufig in Kontakt mit alternativen Erklärungen. Ich bin ja grundsätzlich ein großer Fan von alternativen Erklärungen.

Schade finde ich, dass so gut wie jeder Beitrag, den ich dazu lese, höre oder sehe, egal wie nachvollziehbar oder klug er zuerst klingt, immer irgendwann in irre Verschwörungstheorien abdriftet. Als würde es zwangsläufig zusammengehören, der Pharmalobby gegenüber kritisch zu sein (bin ich) und Corona für künstliche Panikmache mit dem Ziel von Zwangsimpfungen zu halten (ähm… nö). Oder einen systemischen Ansatz in Medizin zu verfolgen (verstehe ich, kann ich nachvollziehen, macht für mich Sinn) und es egal zu finden, ob Menschen an (angefressener) Herzverfettung sterben oder an einem Virus, dessen Übertragung vermeidbar gewesen wäre. Bei aller berechtigter Kritik an der Agrarlobby: Nein, das finde ich nicht egal.

Wenn das die Denke hinter den alternativen Vorschlägen ist, bleibe ich lieber weiter daheim und lese ein Buch.

Freiheit

Trotzdem werde ich die Einschränkungen von Freiheit und Grundrechten durch politische Entscheidungen immer kritisch hinterfragen. Auch, und gerade dann, wenn ich mit der Entscheidung einverstanden bin. Denn wenn ich selbst einverstanden bin, dann doch aus einem von zwei Gründen:

  1. Die Einschränkungen treffen mich nicht oder zumindest nicht übermäßig hart.
  2. Ich gewinne dadurch etwas, für das ich bereit bin, den Preis der Einschränkung zu zahlen.

In beiden Fällen muss ich tun, was im Englischen als ‚check your privilege‘ bezeichnet wird. Auch wenn die Einschränkungen mich nicht besonders hart treffen, wen treffen sie besonders hart? Auch wenn ich dadurch etwas gewinne, das ich wertschätze, wer verliert etwas, für das er den Preis zu hoch findet?

Ist es meine Aufgabe, denen zu erklären, warum ihre Interessen weniger wichtig sind als meine? Oder ist es meine Aufgabe, nach einer Lösung zu suchen, die unsere Interessen (besser) ausgleicht? Ich weiß, in welcher von beiden Gesellschaften ich leben will. Deshalb ekelt mich die derzeitige moralische Überlegenheitskultur ziemlich an.

Öffungsdiskussion

Andererseits kommt man ja leider oft mit rationalen Argumenten nicht wirklich weit. Immerhin haben wir Gerichte, die das auch so sehen, und so Dinge kassieren wie:

  • Geschäfte bis 800 qm dürfen öffnen, größere (also die mit mehr Platz) nicht
  • Viertklässler müssen zur Schule, alle anderen nicht
  • Vollständige Aufhebung der Versammlungsfreiheit

Trotzdem muss ich sagen: Der deutsche Michel ist selbst schuld. Seit die ersten Lockerungen beschlossen wurden, laufen die Menschen in Scharen in die Geschäfte. Mundschutz Fehlanzeige. Dabei sind die ab morgen Plicht in den meisten Geschäften und dem ÖPNV. Aber erst ab morgen! Da kann ich doch heute nochmal so raus. Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!

Fump.

Daneben!

Das Kind hat Prüfungen, die erste war Freitag. Ich bin in der Luxusposition, ihn mit dem PKW in die Schule fahren zu können. Das war echt ganz schön! Endlich mal wieder eine andere Ecke von Hamburg sehen. Irre! Ich bin auf dem Rückweg – statt die Autobahn zu nehmen –  an der Elbe ausgestiegen und habe einen Spaziergang gemacht. Das tat wirklich gut. Wir unterschätzen, wie anstrengend der Lockdown ist und was der mit uns macht. Auch wenn wir alle auf hohem Niveau jammern: Es ist nicht gut für uns, so von allem und allen abgeschnitten zu sein.

Wenn wir schon nach wenigen Wochen irre werden, wie muss es dann erst sein, wenn man Jahre in einem Lager verbringt? Wie bin ich denn jetzt darauf gekommen, das Fass will ich heute nicht aufmachen. Ich will mir jetzt gleich was zu essen bestellen, mich mit einem Buch auf die Couch legen und nicht daran denken, was ich alles noch schaffen will, wenn das hier alles vorbei ist. Und meine Güte, will ich noch viel schaffen!

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Deine Nalli

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