Nalli Sonnenschein

Eltern & Corona: Tagebuch Woche 5

Beitragsbild Eltern

Liebes Tagebuch,

diese Woche habe ich den Anschluss an die Nachrichtenlage verloren. So sehr, dass ich noch am Freitagabend einer Freundin im Brustton der Überzeugung erklärt habe, hier ändere sich bis 4. Mai nichts. Nur um heute die erste Email von einer Buchhandlung zu erhalten, welche Hygienemaßnahmen getroffen werden, damit ich ab Montag wieder shoppen gehen kann. Leider stand nicht dabei, wovon ich ab Montag wieder shoppen gehen kann. Aber ich freu mich trotzdem für die betroffenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, dass sie wieder zur Arbeit gehen können.

Falls sie als Eltern ihre Kinder betreut kriegen. Aber das ist ja nur ein Detail. Die wichtige Nachricht ist: Wir haben die Infektionsgeschwindigkeit so weit reduziert, dass wir anfangen können, die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus zu lockern. Ganz langsam, und in jedem Bundesland ein wenig anders. Aber vor allem: Wir starten mit Shopping. Und den Abi-Prüfungen.

Denn eines geht ja auf gar keinen Fall: Dass ein ganzer Jahrgang Schüler einen Abschluss hinterhergeworfen bekommt, für den sie überhaupt nichts geleistet haben. Also, außer sich jahrelang vorzubereiten und während einer weltweiten Pandemie den Prüfungstermin liegen zu haben. Ich meine, man schenkt ja auch nicht in einem Weltkrieg den jungen Leuten, die zum Dienst eingezogen werden, vorher das Abitur, damit sie hinterher – falls sie überleben – den Staat wieder… was? Doch? Notabitur?

Notabitur – Durchschnittsabitur

Ach so, das wurde aber oft nicht anerkannt. Und das wäre ja schon doof, wenn man dann im Wintersemester nicht mit dem Studium anfangen könnte, weil sich die Abiturnote statt aus den Zeugnisnoten der letzten 4 Semester plus Prüfungsnote nur aus den Zeugnisnoten der letzten 4 Semester zusammensetzt. Was natürlich etwas völlig anderes ist als das so genannte Notabitur, das man bekam, ohne die sonst für das Abitur vorgesehene Schulzeit absolviert zu haben. Die hat der Abijahrgang 2020 ja abgeleistet.

Es haben aber nicht alle geglänzt in der Zeit, und wäre es nicht voll ungerecht, wenn die Dumpfbacken jetzt keine Chance haben, sich mit der Prüfung den Notenschnitt nochmal zu verbessern? Ja, das wäre es wohl. Wobei ich mich ja immer frage, warum alle glauben, dass sie ihren Schnitt mit einer Prüfung verbessern würden. Ist das Gegenteil nicht genauso wahrscheinlich?

Wobei: Wenn ich mir angucke, wie die Kinder heute auf’s Abi vorbereitet werden. Und wie Prüfungen aussehen, so mit wochenlang vorbereiteten Präsentationen. WTF? Wir hatten auch eine Eingrenzung, aber wir hatten für die Vorbereitung unserer Präsis 20 Minuten Zeit. Die 20 Minuten, nachdem wir die Fragestellung bekommen haben.

Was ist gerecht?

Die Prüfungen ausfallen zu lassen ist ungerecht, und offenbar auch jedem gegenüber. Den Prüflingen selbst: Wie sollen die Ausbildungs- und Studienplätze finden, wenn alle wissen, dass sie ihren Abschluss geschenkt bekommen haben? Den anderen gegenüber: Wir mussten Prüfungen schreiben, buhu! Den Eltern gegenüber, die sich seit Jahren mit den Mathe-Hausaufgaben ihrer klügeren Sprösslinge gequält haben, damit die es – je nach Bundesland – in die 12. oder 13. Klasse schaffen. Der ganzen Gesellschaft gegenüber: Bildung schafft Aufstiegsmöglichkeiten! Sagt Armin Laschet, dem in NRW von der Schülerschaft gerade ziemlich viel Wind entgegen bläst. Und dem wohl entgangen ist, dass es in Deutschland einigermaßen unwahrscheinlich ist, dass man es überhaupt bis zum Abi bringt, wenn man nicht ohnehin schon aus einigermaßen ‚gutem Hause‘ kommt.

Ist es doch auch bezeichnend, dass die öffentliche Debatte sich in erster Linie um die Abiturprüfungen dreht. Dabei stehen auch Prüfungen an für: die Fachhochschulreife, den Haupt- und den Realschulabschluss (oder auch den 1. und 2. allgemeinbildenden Schulabschluss für die, die mit Ausgrenzung und Ungleichbehandlung vor allem ein verbales Problem haben).

Weißt du was ungerecht ist? Wenn deine Lebensplanung durch eine Katastrophe über den Haufen geworfen wird. Und es ist völlig egal, wie die entstanden ist oder wie gut du aufgestellt bist, um das anschließend wieder aufzufangen. Wir sind so verzweifelt darauf bedacht, den Anschein von Normalität möglichst bald wiederherzustellen, dass uns völlig entgeht, welche psychische Höchstleistung es für alle ist, die aktuelle Situation zu handhaben.

Jammern auf hohem Niveau

Und natürlich darf man das auch nicht so laut sagen. Denn wir jammern ja auf ganz schön hohem Niveau. Also, zuhause mit Breitbandanschluss und vollem Kühlschrank social distancing zu betreiben, das ist ja keine Leistung. Um sich darüber beschweren zu dürfen, muss man, ja, was eigentlich?

Nichts. Wer sich darüber beschwert, ist ein Arschloch. Also, jedenfalls, wenn man nach der Stimmung im Netz geht. Und wonach soll man derzeit sonst gehen? Motivationsvideos sind o.k. Beschweren dürfen sich nur Pflegekräfte. Alle anderen haben gefälligst stoisch und am besten leise die Situation zu meistern. Vor allem die Eltern, die sich jetzt endlich mal selbst um ihre Brut kümmern (müssen)!

Also, wenn du in Stimmung für richtig harte Hasskommentare bist, dann lies irgendwas über Eltern, die gerade überfordert sind, und wie das kommentiert wird. Kommentare über Eltern sind ja nie leichte Kost. Aber aktuell spitzen sich in manchen Familien die Probleme sehr zu. Und manche Eltern können – angesichts geschlossener Therapie- und Beratungsangebote und Kontaktverbot zu ihren Freund*innen bzw. nicht vorhandener Privatsphäre bei telefonischem Kontakt – nur online über ihre Probleme reden. Und wenn dann jemand den Scheiß, den du dir in einer „geheimen“ Facebook- oder WhatsApp-Gruppe von der Seele geschrieben hast, irgendwo teilt, dann aber Holla, die Waldfee!

Gestresste Eltern

Keiner Menschengruppe schlägt so viel Verachtung entgegen wie Eltern, die zugeben, dass sie nicht mehr können. Hätten sie sich halt nicht fortpflanzen dürfen. Dabei ist es das Mutigste, was es gibt, jemandem zu gestehen, dass man seine Kinder verprügeln möchte. Statt seine Kinder zu verprügeln. Wenn die Antwort dann ist „Ganz egal, wie schlecht es dir geht, es gibt keinen Grund, seine Kinder zu schlagen“, dann ist das zwar sachlich richtig. Aber das wusste die Mutter schon. Darum hat sie dir erzählt, dass es ihr so geht. Moralisierungen helfen vor allem dem, der sie von sich gibt. Weil er damit sicherstellt, dass er nie wieder um Hilfe gebeten oder mit dem Problem konfrontiert wird. Leider helfen sie den betroffenen Eltern nicht. Im Gegenteil führen sie eher dazu, dass man sich noch mehr wie ein Versager fühlt. Und wem sie auch nicht helfen: Den betroffenen Kindern.

Ich habe mal einem Nachbarn die Tür eingetreten, weil er seine Tochter geschlagen hat. Natürlich gibt es keine Entschuldigung für sein Verhalten. Oder für das der Mutter, die nichts unternommen hat, um ihr Stiefkind zu schützen. Aber es gibt Erklärungen. Und Hilfsangebote. Aber die müssen erreichbar sein, und die Menschen drum herum müssen zeigen, dass sie da sind und hinschauen. Und sich nicht aus der Verantwortung stehlen, indem sie das Problem zu einer Haltungsfrage machen: Wenn du nur daran denkst, bist du es ja gar nicht wert, überhaupt Kinder zu haben. Oder gern auch in die genau andere Richtung: Na, da weiß man ja schon, was aus denen mal wird.

Mäßgung? Fehlanzeige!

Für gemäßigte, abgewogene Urteile und Entscheidungen ist der Mensch nicht gemacht. Deshalb bereiten mir auch die anstehenden Lockerungen Sorge. Gestern war es schon wieder so voll im Supermarkt, die Menschen haben schon so viel weniger auf das Einhalten des Mindestabstands geachtet, und es hat kaum noch jemand Mundschutz getragen. Als wenn die Leute hören „Wir fangen an zu lockern“ und denken „Geilo, der Lockdown ist zuende“.

Leider gibt es ja nicht viel, was man machen kann, um sich selbst zu schützen außer Abstand halten. Aber wie denn, wenn es den anderen wieder egal wird? Die Behelfsmasken – von denen ich mir jetzt auch welche genäht habe – schützen ja höchstens andere vor Ansteckung durch mich. Und selbst das so unzureichend, dass man sie aus rechtlichen Gründen nicht als Mundschutz bezeichnen darf, sondern eben als das, was sie sind: eine Notlösung. Weil es keine anständigen Masken gibt. Nicht genug. Nicht so viele, dass man das Tragen bundesweit zur Pflicht machen kann. Das wäre ja so als ob man den Arbeitsschutz für Pflegepersonal genau dann aussetzen würde, wenn man gesundes, konzentriertes Personal am nötigsten braucht. Also bleibt es bei Appellen: Es wäre schon schön, wenn ihr im öffentlichen Raum Masken tragen würdet. Näht euch welche.

Akzeptanz

Ich bin noch nicht soweit. Gerade habe ich mich in meinem Heimbüro-Alltag eingerichtet. Weiß ungefähr, wie viele Lebensmittel wir von einem Einkauf zum nächsten benötigen. Wann die Nachbarn draußen im Garten sind und ich daher drinnen am Schreibtisch bin. Und jetzt soll schon wieder alles anders werden. Nee! Lasst uns doch drinnen bleiben, bis es keine Neuinfektionen mehr gibt. Ich frage mich sowieso, wer – außer Ärzten und Pflegern – sich in den letzten Wochen noch mit Corona infiziert haben kann. Wenn keiner mehr Kontakt zu niemandem hat. Sind Supermärkte der Ort, an dem sich Menschen weiterhin infizieren? Und wenn ja, wie schlau ist es dann, noch mehr Geschäfte zu öffnen? Und warum darf ich zwar mit anderen Menschen in der U-Bahn ins Einkaufszentrum fahren, aber nicht alleine auf einem Golfplatz Bälle dreschen? Ich brauche mehr Informationen!

Was war noch?

Ach ja. In einem kanadischen Pflegeheim sind ca. 30 Bewohner gestorben, nachdem das Personal aus Angst vor Corona nicht mehr zur Arbeit erschienen ist. Der Mangel an Schutzausrüstung gerade in Altersheimen ist überall ein Thema, auch bei uns. Das nennt man dann wohl aktive Rentenpolitik.

Schweden scheint seine relativ lockere Corona-Strategie gerade um die Ohren zu fliegen. Das ist bedauerlich, wir hatten ja alle irgendwie gehofft, dass das Virus auch mit weniger harten Maßnahmen zu kontrollieren ist. Und auch dort trifft es vor allem ältere Menschen.

Das Kind hat sich einen Bass bestellt. Es braucht neue Hobbys, sagt es. In einer Woche beginnen die schriftlichen Prüfungen. Nicht in Musik.

Alternativen zum aktuellen Verlauf

Ich hatte zwei Vorstellungsgespräche in einer Behörde geplant. Das zweite war nötig, weil das erste wegen der Technik nicht funktioniert hat. Ja, auch als Künstlerin muss man sehen, wo man gebraucht wird in so einer Krise. Und es können ja nicht alle das Internet mit ihren Oh Mann, wenn ich noch ein Wohnzimmer-Corona-Lockdown-Impro-Video sehe, kotze ich! Na jedenfalls hat auch das zweite Interview nicht geklappt. Und vermutlich denken die jetzt, ich bin zu doof für ihre Technik. Vielleicht bin ich auch ganz froh, dass ich künftig nicht mit deren doofer Technik arbeiten muss.

Das einzige interessante Thema der Woche war die Heinsbergstudie. Oder was daraus gemacht wurde. Aber ich habe keine Lust, mich darüber aufzuregen, dass die Menschen nicht mit Wissenschaft umgehen können (WHAT?) und verweise deshalb an dieser Stelle auf das wirklich gute Video zum Thema Wissenschaftskommunikation (SO WHAT?) von maiLab. Gute Frau, die.

Virologenvergleich – Wissenschaftskommunikation in der Krise von maiLab

Ich bin sehr gespannt, wie das alles hier so weitergeht. Ein anderes Thema wäre ja doch mal wieder ganz schön. In diesem Sinne, pass auf dich auf.

Deine Nalli


Quelle:

Beitragsbild: Photo by Sarah Ardin on Unsplash

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