Nalli Sonnenschein

Corona Tagebuch Woche 2

Nalli Sonnenschein

Liebes Tagebuch,

die zweite Woche in Corona-Isolation war… interessant. Uns geht’s gut. Ich war so produktiv wie lange nicht. Ist schon spannend, was man alles schafft, wenn man keine Ausrede mehr hat, wo man sein sollte – statt am Schreibtisch. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus wurden noch einmal verschärft. Wir dürfen jetzt draußen nur noch mit Haushaltsmitgliedern unterwegs sein, die wir im Notfall eh anstecken würden. Oder mit genau einer anderen Person. Zu haushaltsfremden Menschen muss ein Mindestabstand von 1,5m (besser 2m) eingehalten werden. Aber es gibt keine generelle Ausgangssperre. Worüber nicht alle glücklich sind. Aber meiner Klaustrophobie hat das erstmal die Spitze genommen.

Nächste Woche muss ich vielleicht mal Klopapier kaufen. Davor habe ich ein bisschen Sorge. Aber sonst tüdel ich hier so vor mich hin. Das Kind hat endlich Hausaufgaben bekommen. Es spricht deshalb manchmal mit mir, weil es Fragen hat wie: „In welchem Staat würdest du lieber wohnen? Einem ohne Pressefreiheit oder einem in Rezession?“ oder „Und wie krieg ich mit der Antwort jetzt drei Seiten voll?“

Kinder sind super. Wenn man so beobachten kann, wie sich ihre Argumentationsfähigkeit entwickelt. Wie das Kind genau an der richtigen Stelle eine Quellenangabe einbaut, mit der es ganz subtil den Lehrer auf einen Fehler in der Aufgabenstellung hinweist. Statt zu sagen: „Die Aufgabe geht nicht!“ Ach, wenn doch die Gesellschaft insgesamt weniger aus „Das geht so nicht!“-Rufen bestehen würde und mehr aus „Ich habe hier mal was nachgeschlagen und jetzt frage ich mich, ob ich dich richtig verstanden habe. Können wir mal kurz klären, ob wir auf derselben Meta-Ebene sind?“

Corona radikalisiert die Debatte

Stattdessen treibt sogar Corona die Radikalisierung der Debattenkultur weiter voran. Nachdem letzte Woche ja alle irgendwie damit beschäftigt waren, in der neuen Realität anzukommen, wurden diese Woche die ersten Fragen danach laut, wie lange das dauern soll. Eine berechtigte Frage, auf die derzeit niemand eine Antwort geben kann oder will. Trotzdem muss man sie doch stellen. Dürfen.

Aber nein! Wer fragt, ob es keine Alternativen zum andauernden Shutdown gibt, der verharmlost Corona! Oder er akzeptiert Selektion! Natürlich. Holocaust-Referenzen müssen sein, sonst versteht der Deutsche die Schwere der Situation nicht.

Geht’s eine Nummer kleiner? Letzte Woche haben noch alle gejammert, wovon sie jetzt denn leben sollen. Diese Woche wurden die Gesetze dazu verabschiedet, jetzt können wir uns zurücklehnen und wochenlang zuhause sitzen? Äh. Danke. Aber nein danke?

Erstens sind die Gesetze mit der heißen Nadel gestrickt und die ersten Unternehmer berichten schon davon, dass die Hilfsmaßnahmen nicht wie geplant greifen. Zweitens ist soziale Isolation in der Wohnung ein Risikofaktor an und für sich. Wie lange soll alles brachliegen? Wie viele Unternehmen sollen pleitegehen? Wie viele Depressive ohne soziale Kontakte müssen sich umbringen? Wie viele Frauen müssen erschlagen werden, bevor es erlaubt ist, die Frage zu stellen, ob die getroffenen Maßnahmen (noch) angemessen sind?

Ich hab da mal eine Frage

Und vor allem: Wann ist es aus der Mode gekommen, über alternative Möglichkeiten zur Lösung von Problemen ergebnisoffen zu diskutieren? Ich habe das Memo verpasst. Mittlerweile wird schon das Stellen einer Frage als Statement gelesen. Selbst, wenn man die Antwort wirklich nicht kennt und gern hören würde. Die ersten 13 Antworten auf offene Fragen im Netz sind ziemlich sicher diese:

  1. Wenn du das nicht weißt, bringt es auch nichts, es dir zu erklären.
  2. Bist du dumm!
  3. Wie kann man denn so eine Frage stellen?!
  4. Schon durch das Stellen dieser Frage offenbarst du ja, welche Antwort du erwartest.
  5. Es gibt Fragen, die darf man nicht mal denken.
  6. FCKNZS
  7. Scheiß Antifa!
  8. Ein Pornobild.
  9. Geh zurück in das Loch, aus dem du gekrochen bist.
  10. Ein Screenshot deiner Frage. Ohne Kommentar
  11. Irgendjemand wird verlinkt, den du nicht kennst.
  12. Ein Link zu einem Youtube-Channel mit Verschwörungstheorien.
  13. Hallo!

Bis dahin hast du selbst – in Ermangelung eines Gesprächspartners – die wissenschaftliche Literatur zu deiner Frage durchgearbeitet. Dein Horizont wäre deshalb jetzt offen für ganz unterschiedliche Perspektiven. Aber was nicht passiert, ist, dass in der Gruppe / Gesellschaft wirklich über das Thema gesprochen wird. Es werden keine unterschiedlichen Perspektiven eingenommen. Niemand versucht, den anderen zu verstehen. Es wird kein neuer Konsens entstehen. Niemand hört mehr zu, aber jeder antwortet.

Das macht mich so müde!

Menschenleben schützen

Zumal ja auch in jeder Form von Radikalität ein gewisses Maß an Selbstverarschung steckt. Wenn der Arbeitsminister sagt, dass man in der aktuellen Krise nicht Menschenleben gegen die Wirtschaft aufrechnen kann, klingt das ja erstmal richtig. Wenn man dieses Argument aber benutzt, um alle mundtot zu machen, die eine Debatte über das Ende des Shutdowns und alternative Maßnahmen fordern, klingt das doch eher hohl. Wirtschaft und Menschenleben können nicht gegeneinander aufgerechnet werden?

Oder können nur UNSERE Leben nicht gegen die Wirtschaft aufgerechnet werden? Kommt es mir nur so vor, oder haben unsere Politiker überhaupt kein Problem mit dem Aufrechnen von Menschenleben, wenn es um die Leben von Menschen WOANDERS geht? Waffenexporte verbieten? Arbeitsplätze! Asylrecht durchsetzen? Aber Recep hat doch Geld dafür gekriegt! Kohleausstieg? Arbeitsplätze! Slack als Plattform für einen Hackaton der Bundesregierung? Saudi-Arabien ist ein verlässlicher Wirtschaftspartner.

Ich habe als junge Spundin in der Altenpflege gejobbt. Da hat eine Bewohnerin keine Traumatherapie bekommen, weil es sich „nicht mehr gelohnt“ hat. Dabei ist sie fast jede Nacht mit Panik aufgewacht, weil sie ihre Kriegserfahrungen wieder und wieder durchlebt hat. Jeden Tag kämpfen in diesem Land Menschen um Medikamente und Hilfsmittel, die ihnen versagt werden, weil wir keineswegs finden, dass Menschenleben und Lebensqualität nicht gegen Geld aufgerechnet werden können.

ADIDAS & Co.

Natürlich sind es nicht nur die Politiker. Heute schreien alle um mich herum, dass sie ADIDAS boykottieren wollen. Weil die wegen Corona ihre Ladenmieten stunden wollen. Mieten für Läden, die derzeit bis auf weiteres geschlossen sind. Da kommen aber die Systemkritiker aus ihren Löchern! Unsolidarisch sei das. Die armen Immobilienkonzerne!

Wo waren denn die Boykottaufrufe gegen den Weltmeisterschafts-Sponsor, als die FIFA die Fußball-WM nach Katar verkauft hat? Wo nachweislich Menschen beim Stadionbau ausgebeutet werden und sterben? Und wieso braucht es den Missbrauch eines Schutzgesetzes hier bei uns, damit ihr H&M boykottiert, die in Billiglohnländern produzieren wie alle anderen, großen Textilkonzerne? Während Unternehmen wie Trigema oder Manomama, die Arbeitsplätze in Deutschland halten, eine Nische besetzen? Euch ist der wirtschaftliche Schaden in Deutschland wichtiger als die Lebensbedingungen in Bangladesh oder Indien. Und ihr spult euch auf wegen der Moral von Konzernen?

Sorry, aber ihr habt ganz offensichtlich momentan zu viel Zeit.

Verdrängung – Wut – Verhandlung

Jetzt verteidige ich die Entscheidungen von Konzernen, so weit ist es schon gekommen! Dabei finde ich es nur affig, ausgerechnet diese Entscheidung über die Mieten als Begründung für Boykott zu benutzen. Es gäbe so viele andere, wirklich gute Gründe. Wer hat denn den Schaden am Ende? Wenn’s gut läuft, Adidas selbst. Wenn nämlich die Stundungen rechtswidrig waren. Abgesehen davon wird das Corona-Hilfeprogramm die Mietausfälle für die Immobilienbesitzer auffangen. Adidas wird seine Online-Präsenz weltweit weiter ausbauen. Und der kleine Laden um die Ecke wird pleitegehen, weil er schon vor der Krise nicht kreditwürdig war und deshalb auch jetzt keine Hilfskredite bekommt. Dafür kann aber Adidas nichts. Das hat unsere Regierung verkackt!

Irgendwann wird diese Krise zu Ende sein. Und dann ist auch schon fast Fußball-Europameisterschaft! Wenn ihr dann EM-Trikots von Trigema kauft, entschuldige ich mich sogar für meine Häme von heute. Ach so, EM-Trikots macht nur Adidas, deshalb unterbrichst du ausnahmsweise deinen Boykott? Ja, klar, das verstehe ich. Immerhin schafft es ja auch Arbeitsplätze in Südostasien. Wovon sollen die Menschen denn da sonst leben? Wandel durch Handel, blablafalltotum.

O.k. Offensichtlich bin ich im Circle of Denial bei Anger angekommen. Wut. Ist eine normale, zu erwartende Phase. Jeder findet einen anderen zum Wütend Sein. Adidas ist vermutlich genauso gut wie die Deppen, die immer noch im Pulk draußen unterwegs sind oder die Politiker. Nächste Woche werde ich mal Soforthilfen und Kindergeldzuschlag wegen Corona beantragen. Verhandlung.

Hab einen schönen Sonntag, liebes Tagebuch. Danke für’s Zuhören.

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